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Gefühle werden nicht dement

Herr Müller schlief schlecht, denn wann immer seine Frau aufstand, musste er sie suchen, damit sie nicht irgendwo hilflos herumirrte. Wenn sie morgens endlich ruhig schlief, stand er trotzdem wieder auf, um in Ruhe das Frühstück vorbereiten zu können.

Danach erst weckte er seine Frau und brachte sie ins Bad, wo sie sich gegen seine pflegerischen Versuche, sie zu waschen und zu wickeln, tatkräftig zur Wehr setzte. Beim Frühstück musste er die zarte Person mit dem Stuhl so eng wie möglich zwischen Tisch und Wand einklemmen, da sie sonst unaufhörlich aufgestanden wäre. Die Wohnung war bereits komplett von herumliegenden Gegenständen geräumt. Waschbeckenstöpsel, Schranktüren, Besteckschublade etc. waren zu ihrem Schutz abgesichert. Allein lassen konnte er seine Frau unter keinen Umständen. An manchen Tagen hatte Herr Müller Glück. Dann begrüßte sie die Nachbarin auch beim wiederholten Treffen mit einem begeisterten: „Wir haben uns aber lang nicht mehr gesehen!“ An schlechten Tagen konnte sie durchaus auch mit einem Handfeger in der Hand hinter ihrer Nachbarin her jagen…

1,4 Millionen Menschen sind in Deutschland von Demenz betroffen. Zwei Drittel von ihnen erhalten die Diagnose Alzheimer. Jährlich treten fast 300 000 Neuerkrankungen auf. Wenn ihre Anzahl auch innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte prozentual gesunken ist, wird aufgrund der demographischen Entwicklung die Zahl der Demenzkranken weiterhin kontinuierlich steigen. Bis 2050 könnte sie sich verdreifachen, jeder Dritte Betroffene wird dann älter als 90 sein. Rund 70 Prozent aller demenzkranken älteren Menschen werden von ihren Familienangehörigen betreut, meist ihren Lebenspartnern oder ihren häufig noch berufstätigen Kindern. Die dadurch entstehende Belastung ist ein sehr komplexes, mehrdimensionales und dynamisches Gefüge und ist in jedem Betreuungsfalle höchst individuell.

Herr Müller erlebte auch schöne Momente mit seiner Frau. Wenn sie ruhig war und sich an ihn lehnte, ihm zärtlich über das Gesicht strich und ihn anlächelte, dann war er glücklich. Die Pflegetätigkeit kann den Angehörigen Kraft geben und als positiv und sinnstiftend empfunden werden, allein durch das Wissen, dass dadurch dem Erkrankten ein Leben in seinen eigenen vier Wänden ermöglicht wird. Pflegende stehen jedoch in dauerhafter Verantwortung und Bereitschaft. Sie haben kaum Möglichkeiten, die kräftezehrende Begleitung des fortschreitenden körperlichen und persönlichen Verfalls der ihnen nahestehenden dementen Person in einem angemessenen Trauerprozess zu verarbeiten. Eine Demenz kann zu schwerwiegenden Veränderungen im Denken, Fühlen und Verhalten des Kranken führen. Es besteht eine erhöhte Gefahr, dass durch diesen zunehmenden Wandel des Demenzerkrankten vermehrt Ärger und Konflikte auftreten. Häufig wird dadurch ebenfalls die Beziehung zwischen dem Demenzerkrankten und seiner pflegenden Bezugsperson negativ beeinträchtigt.

Wenn Betreuungspersonen keine ausreichende Unterstützung und Entlastung, z.B. von weiteren Angehörigen oder durch professionelle Helfer erfahren, dann kann die stetige Belastung zu chronischem Stress und stark ausgeprägter körperlicher Erschöpfung führen. Diese mündet schließlich in einer Verschlechterung des eigenen Gesundheitszustandes. Pflegende haben ein nachweislich erhöhtes Krankheitsrisiko und zeigen zu über 50 Prozent mehr körperliche Beschwerden als der Durchschnitt der Bevölkerung. Zugleich liegt der Anteil an depressiven Störungen mindestens doppelt so hoch wie in der Normalbevölkerung, welches durch die aufgrund der Pflegesituation entstandenen eingeschränkten Freizeitaktivitäten und eine daraus resultierende mögliche soziale Isolation erklärt werden kann. Sogar das Risiko, selbst an Demenz zu erkranken, scheint bei Angehörigen dementer Menschen erhöht zu sein

Jede Pflegekonstellation ist einzigartig und abhängig von Rahmenbedingungen wie dem Grad der fortgeschrittenen Demenz und der daraus folgenden Intensität der notwendigen Betreuung. Von einer weiteren Veränderung in Richtung einer Verschlechterung der Situation durch weiteren kognitiven Abbau des Erkrankten muss in jedem Falle ausgegangen werden. Die Wahrnehmung der individuellen Belastung einer pflegenden Person ist jedoch von der jeweiligen Pflegebelastung relativ unabhängig und zeigt sich entscheidend geprägt von den besonderen Bewältigungsstrategien, die jeder Einzelne im Laufe seines Lebens erworben hat. Daher ist der Aspekt der Pflegebelastung als ein veränderbarer Faktor im Bedingungsgefüge der Pflegesituation einzustufen und beispielsweise in einer Reihe mit dem grundsätzlich durchführbaren Umbau in eine möglichst pflegegerechte Wohnung zu nennen.

Pflege kann nur gut gehen,
wenn es den Pflegenden selbst gut geht

– Birgit Jansen –

Die Fähigkeit des Pflegenden zur Selbstsorge nimmt dabei eine Schlüsselposition ein: Wer sich fundiert und gründlich über die Demenzkrankheit informieren konnte und dadurch eine größere Sicherheit im Umgang mit seinem Angehörigen erlangt hat, ist weitgehend davor gefeit, Unmögliches von sich zu verlangen. Der Kontakt zu anderen Betroffenen kann darüber hinaus eine gute Möglichkeit sein, sich auszutauschen. Wem das Aufsuchen einer Selbsthilfegruppe nicht möglich erscheint: Das Alzheimer-Telefon der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft ist seit 2002 unter den Telefonnummern 030/259 37 95 14 (Festnetz) oder 01803/17 10 17 (0,9 ct/min) zu erreichen und steht jedem Anrufer beratend zur Seite. Mit gleichgesinnten Unterstützern wird es zudem leichter fallen, organisierte Hilfen wie ambulante Pflegedienste, Tagespflege oder Kurzzeitpflege ohne schlechtes Gewissen und innere Selbstvorwürfe anzunehmen, um in diesen Ruhepausen wieder eigene Kraft schöpfen zu können. Diese neu gewonnene Kraft kommt schließlich auch wieder dem Angehörigen zugute!

Ein wichtiger und veränderbarer Kontextfaktor ist in den Merkmalen der bestehenden Beziehung zum dementen Angehörigen zu sehen und die Qualität der Beziehung sowohl vor als auch nach der Erkrankung zu berücksichtigen. Der emotionale Zustand des Pflegebedürftigen sowie die Intensität der Bindung zu ihm spielt eine große Rolle. Die gesamte Lebensqualität aller Beteiligten wird nachweislich verbessert, wenn Angehörige Verständnis für die Veränderungen im Verhalten des Betreuten aufbringen können, indem sie fundiertes Wissen um die Krankheit erwerben und damit einen möglichst entspannten Umgang mit der Demenz aufbauen können. Eine verbesserte Beziehungsebene kann sogar den Fortschritt des Krankheitsverlaufes verzögern.

Britta Weinbrandt - Kommunikation bei Demenz

Training für Angehörige und Pflegekräfte

In dem vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Leuchtturmprojekt Demenz haben Julia Haberstroh und Dr. Johannes Pantel am Klinikum der Goethe-Universität in Frankfurt ein Trainingsangebot zur Verbesserung der Kommunikation in der Betreuung demenzkranker Menschen entwickelt. Haberstroh und Pantel stellen anschaulich dar, wie die individuellen Stärken der Demenzkranken erkannt, gefördert und genutzt werden können, um bestehende Schwächen zu umschiffen und die Kommunikation auch in weiter fortgeschrittenen Stadien aufrecht zu erhalten.

Kennt man einen Menschen mit Demenz,
kennt man EINEN Menschen mit Demenz.

– Julia Haberstroh und Johannes Pantel –

Angehörige und professionell in der Pflege Tätige erfahren beispielsweise in diesen Trainings, dass jede Betreuungssituation einzigartig ist. Ziel ist es, die Kommunikationskompetenz von pflegenden Angehörigen gegenüber den betreuten Demenzkranken zu verbessern. Pflegende Angehörige lernen kommunikative Stärken und Schwächen von Demenzkranken kennen. Die Teilnehmer werden als die Experten für ihre Angehörigen gesehen, denn sie wissen, was für die zu pflegende Person das Beste ist. Es geht um Hilfestellungen im gemeinsamen Expertenaustausch. Anhand alltäglicher Beispiele wird erklärt wie individuelle Stärken der Demenzkranken erkannt, gefördert und genutzt werden können, um Schwächen zu umgehen und Kommunikation aufrecht zu erhalten. Für eine funktionierende Kommunikation bedarf es verschiedener Fertigkeiten. Im Trainingsprogramm wird besonders auf „Aufmerksamkeit“, „Behalten“ und „Verstehen“ eingegangen. Sie sind bei Demenzpatienten – je nach Krankheitsstadium – unterschiedlich stark beeinträchtigt. Die Teilnehmer erarbeiten Strategien zum Umgang mit demenzkranken Menschen, die in einer individuellen Betreuungssituation hilfreich sind. Verständnis und das Wissen über die Kommunikationsschwierigkeiten mit Demenzkranken können für einen entspannten Umgang sorgen, zu mehr Lebensqualität beitragen und die Belastung der Angehörigen reduzieren.

Die Möglichkeiten der Kommunikation sind bereits im recht frühen Stadium der Demenz eingeschränkt, welches eine besondere Belastung für alle Pflegenden darstellt. Demenzerkrankte können je nach Erkrankungsdauer Schwierigkeiten haben, Gesprächen zu folgen oder stellen beispielsweise immer wieder dieselben Fragen. Da demente Menschen selbst über keine kommunikationsförderlichen Strategien mehr verfügen, liegt die Verantwortung für eine gelingende Kommunikation gänzlich bei den Angehörigen. Wenn sich Angehörige in angespannten Situationen über den Betroffenen ärgern, dann können sie ungünstig reagieren, indem sie z.B. kritisieren und auf Fehler hinweisen oder laut und vorwurfsvoll werden. So kann sich dann eine Abwärtsspirale entwickeln, die letztlich auch den Verlauf der Krankheit negativ beeinflusst.

Kommunikationstipps für den Umgang mit Demenzerkrankten

Es gibt einige Merkmale der Kommunikation, die sich bei vielen Dementen beobachten lassen:

  • Die meisten der erkrankten Menschen sind problemlos in der Lage, ihre Aufmerksamkeit stark zu fokussieren, es gelingt ihnen jedoch nur sehr schwer, ihre Aufmerksamkeit zu teilen. So nehmen sie beispielsweise selten wahr, wenn sie aus dem Nebenraum gerufen werden. Auf dieses Phänomen kann im Kontakt mit ihnen jedoch leicht Rücksicht genommen werden: Schalten Sie Hintergrundgeräusche aus und setzen Sie eine deutliche Körpersprache oder auch Körperkontakt ein, um die Aufmerksamkeit entsprechend zu lenken.
  • Auch wenn die frühere Beziehung aufgrund der fortschreitenden Symptomatik verlorengegangen ist, so kann der Umgang mit dem Erkrankten dennoch weiterhin an altbekannten Vorlieben und Kompetenzen ausgerichtet werden: Ein Naturliebhaber kann nach wie vor zu Spaziergängen angeregt und auf die umgebende Flora und Fauna angesprochen werden. Ein Kunstliebhaber kann mit verschiedenen Materialien zu Ausdruckstätigkeiten inspiriert werden, ein Opernliebhaber mit Musik.
  • Ebenso hilfreich, um die Aufnahme einer neuen Information zu gewährleisten, kann das bewusste Sprechen in kurzen Sätzen sein, das eine komplexe Aussage in kürzere Einheiten von nur einer Information pro Satz aufteilt. Der Sachverhalt „Ich muss noch einmal kurz ‚rüber zum Kaufmann gehen, weil ich vergessen habe, Kartoffeln zu kaufen. Ich erwarte allerdings ein Paket, daher wäre es mir sehr wichtig, dass Du zur Tür gehst und dem Postboten aufmachst, wenn er klingelt“, sollte dementsprechend verkürzt, in kurzen Sätzen mit einer Information pro Satz, mitgeteilt werden: „Ich muss kurz einkaufen. Wir brauchen Kartoffeln. Ich warte auf den Postboten. Der Postbote klingelt gleich. Mach‘ du bitte dem Postboten die Tür auf! Ich bin gleich wieder da.“
  • Das WIE wird demnach leichter erfasst als das WAS des Gesagten. Daher ist es wichtiger, Anerkennung, Wertschätzung und Geborgenheit zu vermitteln und somit neue Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen, als auf einen Fehler hinzuweisen und sich in eine fruchtlose Diskussion zu verstricken. Wenn es beispielsweise notwendig ist, verschmutzte Kleidung zu wechseln, kann man, anstatt auf das Missgeschick aufmerksam zu machen, darum bitten, doch heute einmal das schöne neue Stück anzuziehen, das so fantastisch gut an ihm aussieht – damit erhält der Pflegebedürftige die Möglichkeit, dem Gesprächspartner einen Gefallen zu tun und erfährt somit Anerkennung und Wertschätzung.

Die Bedeutung einer neuen Information wird nicht immer verstanden und noch seltener behalten, sehr wohl aber spüren Demente, dass eine Botschaft authentisch ist und sich Zeit für sie genommen wurde. Die Fähigkeit des Erspürens auf der emotionalen Ebene bleibt dem Demenzkranken weitgehend erhalten. „Das Herz wird nicht dement.“ Frustrierende Kommunikationserlebnisse werfen die Erkrankten auf ihre Schwächen zurück und wirken krankheitsverschlimmernd. Hingegen stärkt ein ressourcenbewusster Umgang mit der Demenz die Beziehungsebene und beugt dem Verstummen vor.

Britta Weinbrandt - Kommunikation mit Demenz

Wie Demenz von Altersvergesslichkeit abgegrenzt wird

Anzeichen von Vergesslichkeit sprechen nicht gleich für eine beginnende Demenz, sie gehören zum physiologischen Alterungsprozess, der mit rund 50 Jahren beginnt. Die kognitive Leistungsfähigkeit nimmt jedoch im Alter nicht automatisch ab, sondern wandelt sich lediglich: die so genannte fluide Intelligenz (angeborene Fähigkeiten, die kaum durch die Umwelt beeinflussbar sind, wie z.B. logisches Denken, Problemlösung) nimmt ab, während die kristalline Intelligenz (Fähigkeiten, die im Laufe des Lebens erworben werden, z.B. Bewegungsabläufe) weitgehend erhalten bleibt. Bei Menschen mit Demenz nimmt nicht nur das Erinnerungsvermögen ab, sondern auch die allgemeine Fähigkeit, zu denken. Insbesondere gelingt es ihnen zunehmend schwieriger, Zusammenhänge zu erfassen. Daher ist es in der Prävention von Demenz auch sinnvoller, sich neue Dinge beizubringen, wie z.B. jonglieren, anstatt Sudokus oder Kreuzworträtsel auszufüllen, die von Könnern auswendig heruntergeschrieben werden können und keine Herausforderung mehr darstellen.

Wenn die Symptome über ein halbes Jahr andauern, sollte ein Arzt aufgesucht werden. Besondere Warnzeichen sind, wenn Betroffene bereits auf wahrnehmbare Verwirrtheit angesprochen werden und sich nicht mehr herausreden können, und wenn Orientierungsstörungen in eigentlich bekannter Umgebung auftreten. Auch das Hinzukommen von Wortfindungsproblemen sollte beachtet werden. Bei fortschreitender Demenz verändert sich die gesamte Persönlichkeit, und der Betroffene benötigt zunehmend umfassende Hilfe von seinen Angehörigen.

Der Arzt wird umfassende körperliche und neuropsychologische Untersuchungen einleiten. Der bekannteste Demenztest, der Mini-Mental Status, besteht beispielsweise aus Fragen bezüglich der räumlichen und zeitlichen Orientiertheit, stellt Aufgaben zur Merkfähigkeit im Kurzzeitgedächtnis mit wiederholender Nachfrage nach einigen Minuten, lässt Gegenstände benennen, kleinere Rechenoperationen ausführen, Figuren nachzeichnen etc. Er wird meist in Kombination mit dem Uhrentest durchgeführt, bei dem der Patient gebeten wird, das Zifferblatt einer Uhr aufzuzeichnen und eine Uhrzeit einzutragen. Ausschlaggebend ist hierbei jedoch nicht nur das einzelne Testergebnis, sondern insbesondere die Dokumentation wiederholender Testdurchführungen im Vergleich, wodurch der Verlauf der dementiellen Entwicklung aufgezeichnet werden kann.

Die Texte in diesem Blogbeitrag wurden 2015 unter Kooperation mit dem Osterberg-Institut in der Reihe „Fit fürs (Berufs)leben“ verfasst und im sh:z Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag publiziert, mit einer Rezension des dazugehörigen Vortrages „Kommunikation mit Demenzerkrankten“. Bereits im August 2015 führte Kerrin Ketels vom Friisk Funk mit mir daraufhin ein Radiointerview auf Friesisch. 2017 bat mich das „Wirtschaftsmagazin für erfolgreiche Therapiepraxen – unternehmen praxis“ um ein Interview über Gerontologopädie.